Die Entstehung des Wing Chun
 
 
Die Entstehung unserer Kampfkunst ist nicht mehr zweifelsfrei nachzuvollziehen. Die bekannte Legende von der Shaolin-Nonne Ng Mui und ihrer Schülerin, der bedrängten jungen Frau Yim Wing Chun, die sich mit Hilfe der neuartigen, überlegenen Kampfkunst ihres Peinigers entledigen konnte, ist aller Wahrscheinlichkeit nach eben nur eine Legende, erdacht, um die Autoritäten zu täuschen und sich vor Verfolgung zu schützen.
 
Die frühesten nachweisbaren Wing Chun-Exponenten, die Angehörigen der Hung Suen-Operntruppe (Hung Suen = Rote Dschunke) waren nämlich Mitglieder einer gegen die Mandschu-Regierung gerichteten Geheimgesellschaft. Man legte schon aus diesen Gründen falsche Spuren, aber sicher wollte man sich auch bewußt in die Tradition von Siu Lam (Shaolin) stellen, das sich gegen die Regierung gestellt hatte und dafür mit der Zerstörung wahrscheinlich mehrerer Tempel bestraft wurde.
 
Möglicherweise geht sogar der Name Wing Chun (Lob des Frühlings oder, bei etwas anderer, möglicherweise der ursprünglichen Schreibweise, Ewiger Frühling) auf ein als Code verkürztes Motto der Mandschu-Gegner zurück. Eine reale Verbindung zum Shaolin-Tempel könnte es gegeben haben (auch dafür gibt es Anhaltspunkte), nachzuweisen ist sie aber bisher nicht. Kurz: man weiß einigermaßen sicher nur, daß die Leute der Roten Dschunke um das Jahr 1850 herum Wing Chun oder eine Art Proto-Wing Chun betrieben und weiterentwickelten. Wahrscheinlich waren Wing Chun-Kämpfer am Boxeraufstand beteiligt, der von den Acht Nationen blutig niedergeschlagen wurde.
 
Von dort ausgehend, lassen sich etliche Wing Chun Linien weiterverfolgen, darunter auch die Linie über Leung Jan (der von Mitgliedern der Roten Dschunke lernte) und Chan Wah Shun zu Grossmeister Yip Man und dessen Schüler Lok Yiu, nach dem wir unser Wing Chun als Lok Yiu Wing Chun Kuen bezeichnen. Großmeister Yip Man hatte sich in seiner Heimatstadt Fatshan über Jahre der Vervollkommnung seines Wing Chun widmen konnte. 1949 musste Grossmeister Yip Man China verlassen und ging zuerst nach Macao. Nach einigen Wochen zog er dann nach Hong Kong.

Kampfkünste und Tradition

Die chinesischen Kampfkünste gehen auf Ursprünge zurück, die bis ins dritte Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung zurückreichen. Die heute bekannten traditionellen Künste sind größtenteils zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert entwickelt worden. Die geistigen Ursprünge sind in den drei großen Determinanten der chinesischen Philosophie zu suchen: dem Konfuzianismus, dem Daoismus und dem Chan-Buddhismus. Das Wing Chun ist, ohne viele äußere diesbezügliche Traditionen zu pflegen, ein Produkt dieser philosophischen Strömungen und „lehrt“ viele ihrer grundlegenden Maximen durch seine Übungsmethoden und Prinzipien.

Philosophie, Meditationstechniken und Chi-Übung (Chi (Qi) = innere Kraft, Lebensenergie) sind gewissermaßen unsichtbar im Wing Chun verpackt. Der Kampfkünstler sollte sich auch der moralischen Werte bewußt sein, die bei der Entstehung des Quanfa (auch Chuan-fa = Kampfkünste, meistens als Gongfu, Gung Fu oder Kung Fu bekannt) Pate standen. Vieles im Selbstverständnis des Kung Fu geht zurück auf die halb-mythische Tradition der ‚Wandernden Ritter‘ des frühen China – legendäre Kämpfer, die die Armen und Schwachen schützten und Ungerechtigkeiten bekämpften. So wurden auch später große Kämpfer oft zu Volkshelden und inspirierten ihrerseits die Schaffung und Entwicklung der Kampfkünste. Außergewöhnliche Schwertkämpfer wurden ob ihrer hochentwickelten physischen wie spirituellen Fähigkeiten oft gar zu ‚Heiligen des Schwertes‘ erklärt.

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